Offener Brief: Reformstau im deutschen Wissenschaftssystem

Sehr geehrte Frau Bundesministerin,

wir freuen uns, dass das Wissenschaftsministerium nun wieder eine reguläre Leitung hat und gratulieren Ihnen herzlich zu Ihrer Ernennung. Das Amt birgt viele Herausforderungen, denn in den letzten Jahren ist viel zu wenig passiert, um die gravierenden Mängel im deutschen Wissenschaftssystem zu beheben und dieses zukunftsfähig zu machen. 

Im Namen des 2024 gegründeten professoralen Netzwerks Nachhaltige Wissenschaft (NNW) wenden wir uns heute an Sie, um den anstehenden Reformbedarf zu unterstreichen. Unsere Arbeit als Netzwerk ist dem Prinzip der Nachhaltigkeit im weitesten Sinn verpflichtet. Wir halten unter anderem stabilere Beschäftigungsstrukturen jenseits der Professur, verantwortungsvollere Ressourcennutzung, eine transparentere und fairere Gestaltung von Arbeitsprozessen sowie einen barrierefreien, nicht-kommerziellen Zugang zu Forschungsergebnissen für unabdingbar, um eine zukunftsfähige Wissenschaft zu gestalten. Besonderen Anlass zur Sorge gibt aktuell der Stand der Wissenschaftsfreiheit.

In den USA zeigt sich derzeit, wie sehr inhaltliche und strukturelle Übergriffe seitens der Politik diese Freiheit bedrohen können. Dort lässt sich beobachten, wie eine anti-intellektuell und autoritär ausgerichtete Regierung versucht, fortschrittliche und kritische Strukturen des akademischen Betriebs und der öffentlichen Verwaltung zu zerstören. Da solche Eingriffe auch in Deutschland leider nicht mehr undenkbar sind, gilt es Strukturen zu stärken und herzustellen, die langfristig eine sichere und autonome wissenschaftliche Arbeit gewährleisten.

Die im Grundgesetz garantierte Wissenschaftsfreiheit soll es ermöglichen, jenseits von Partikularinteressen ergebnisoffen und fundiert den Dingen auf den Grund zu gehen. Sie dient damit dem Gemeinwohl und ist ein sehr hohes Gut. Unser Gemeinwesen gewährt einer relativ kleinen Gruppe von Menschen diese Freiheit und stellt ihnen öffentliche Mittel zur Verfügung, um dieser Aufgabe nachzukommen. Wir gehören selbst zu dieser kleinen Gruppe, begreifen unsere Freiheit als schutzwürdig und sind uns unserer Privilegien bewusst. Aber wir sind uns auch im Klaren darüber, dass unsere Privilegien an Verantwortung geknüpft sind. Insbesondere ist persönliche und institutionelle Integrität eine notwendige Voraussetzung für eine glaubwürdige, freie Wissenschaft. Um diese Integrität zu gewährleisten, bedarf es umfassender Reformen in einem verkrusteten System.

Wir müssen verhindern, dass Wissenschaftsfreiheit zum Kampfbegriff wird, mit dessen Hilfe bestimmte kritische Forschungsrichtungen attackiert oder legitime Forderungen nach Transparenz, Rechenschaftspflicht und mehr Gleichstellung abgewehrt werden können. Wissenschaftsfreiheit ist eben kein Freibrief für Forschende, die damit dann aus einer öffentlich gut alimentierten Position heraus tun können, wonach ihnen der Sinn steht.

Wissenschaftsfreiheit ist nicht die Freiheit,

  • Untergebene wie Leibeigene zu behandeln;
  • öffentliche Gelder zu verschwenden, um persönliche Interessen oder die Interessen einzelner Institutionen durchzusetzen;
  • die eigene Arbeit und ihre Ergebnisse bis zur Unkenntlichkeit zu beschönigen oder gar nach Gutdünken zu verfälschen;
  • wichtige Personalentscheidungen jenseits transparenter Verfahren im Hinterzimmer zu treffen;
  • ohne institutionelle Checks und Balances zu arbeiten.

Wissenschaftsfreiheit bedeutet vielmehr

  • den Zugang zu einer ausreichenden Grundversorgung, um langfristig Forschung zu ermöglichen, die von den oft schnell wechselnden Vorgaben einzelner Förderprogramme unabhängig ist;
  • das regelmäßige, kritische und öffentliche Reflektieren über die politische Dimension von Forschungsprogrammen, auch im Kontext staatlich und ministeriell geförderter Forschungslinien („was wird warum von wem gefördert?“);
  • die Etablierung von Publikations- und  Kommunikationsformen, die es erlauben, Forschungsergebnisse barrierefrei mit möglichst vielen zu teilen;
  • den freien Zugang zu detaillierten Informationen über die Prozesse und Ergebnisse aller öffentlich geförderten Forschungsprojekte, um konstruktiven Austausch darüber überhaupt erst zu ermöglichen (Fehlerkultur);
  • das Recht aller am wissenschaftlichen Prozess Beteiligten, frei von Unterdrückung und Angst Kritik zu üben und auf Probleme hinzuweisen, unabhängig von ihrem aktuellen Status im System;
  • die Möglichkeit, auch in der Wissenschaft und auch als Beamte zu politischen Fragen Position zu beziehen und sich ausdrücklich für Freiheits- und Gleichheitsrechte zu engagieren, wie sie in unserer Verfassung kodifiziert sind;
  • den proaktiven, institutionellen Schutz aller Forschenden bei Anfeindungen oder Bedrohungen – unabhängig von Anstellungsverhältnis oder Status.

Um Wissenschaftsfreiheit in diesem Sinn nachhaltig zu gewährleisten, braucht es zunächst  eine ehrliche, transparente Bestandsaufnahme. Zu lange wurde die Dokumentation der teils erheblichen Missstände und die Sorge um die Opfer des jetzigen Systems dem Engagement privater Initiativen überlassen. Doch nicht nur die Erfolge der Wissenschaft sind eine öffentliche Angelegenheit, ihre Dysfunktionalitäten und ihre Kosten (menschlich wie finanziell) sind es eben auch.

Es mag sein, dass sich unsere Anliegen nicht vollständig mit Ihren wissenschaftspolitischen Vorstellungen decken. Wir vertrauen aber darauf, dass wir dennoch auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten: das deutsche Wissenschaftssystem produktiv zu reformieren und zu stärken. Als Gesprächspartner stehen wir Ihnen dabei gerne zur Verfügung.

Die Positionen des Netzwerks Nachhaltige Wissenschaft zu den bestehenden Reformnotwendigkeiten in der Deutschen Wissenschaft finden Sie hier.

Mit freundlichen Grüßen

Für das Netzwerk Nachhaltige Wissenschaft: Prof. Dr. Christina Hölzel, Prof. Dr. Daniel Leising, Prof. Dr. Ruth Mayer, Prof. Dr. Katharina Meinecke, Prof. Dr. Tilman Reitz

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