Martina Winkler: Für eine Trennung der Betreuung und Begutachtung von Promotionen

Die Bedingungen, unter denen in Deutschland Promotionen entstehen, gehören zu den Dingen, die zunächst selbstverständlich erscheinen („war schon immer so“), bei genauerem Hinsehen aber in ihrer Absurdität überraschen. Zentrales Element dabei ist die Verknüpfung von Betreuungsfunktion und Gutachtertätigkeit in einer Person. Es lohnt, sich dies auf der Zunge zergehen zu lassen. Der oder die Professor*in stellt Promovierende ein, formuliert zumindest in manchen Fällen die Aufgabenstellung der Dissertation, „betreut“ das Projekt, fungiert außerdem oft noch als Dienstvorgesetzte, ist bei Teilen kumulativer Arbeiten zuweilen Mitautor*in. Konkret bedeutet dies: Der oder die Betreuerin kann intensiv beraten – oder auch nicht. Er oder sie ermöglicht Archivreisen, Feldforschung, Bibliotheksaufenthalte, Konferenzteilnahmen, Publikationen – oder auch nicht. Betreuer*innen können Promovierenden den Rücken freihalten und sie von Verwaltungsarbeit verschonen – oder auch nicht. Wer Dienstreisen genehmigt und finanziert, wer Bücher, Software und Apparate kauft, hat enorme Einflussmöglichkeiten. Wer über Urlaubsanträge, die Verteilung von Arbeitsaufträgen, Deadlines und Home-Office-Regelungen entscheidet, ebenfalls. Von der Entscheidungsmacht über Laborzeiten einmal ganz zu schweigen.

Zusammengefasst bedeutet dies: Betreuer*innen haben fast unbegrenzten Einfluss auf die Bedingungen, unter denen Dissertationen entstehen, und am Ende bewerten sie eben diese Arbeit mit einer Note. Es kann kaum verwundern, dass Kolleg*innen aus anderen europäischen Ländern, sei es Großbritannien, den Niederlanden, Schweden, Österreich oder Tschechien, verwundert mit den Köpfen schütteln, wenn sie von diesen Strukturen hören. Und auch in Deutschland wird diese Praxis seit langem kritisiert. Bereits 2011 sprach sich der Wissenschaftsrat für eine Trennung und Begutachtung aus,  ruderte 2023 allerdings angesichts „der deutschen Tradition, dass die Betreuungsperson das Erstgutachten erstellt“, wieder etwas zurück. Die GEW hingegen betont die vielen Vorteile einer Trennung. In der Praxis bleibt eine Trennung die seltene Ausnahme.

Für eine Trennung

Die Argumente für eine Trennung kommen aus zwei Diskussionszusammenhängen, die einander aber ergänzen und überschneiden. Diese Zusammenhänge sind a) der Wunsch nach einer Verbesserung der wissenschaftlichen Qualität und b) der Kampf gegen Machtmissbrauch an Hochschulen.

Wissenschaftliche Qualität

Das große Erstaunen ausländischer Kolleg*innen über die deutsche Regelung entspringt zumeist der Verwunderung darüber, dass wir eine Note, die am Ende eines so engen und langen Arbeitsverhältnisses steht, tatsächlich für objektiv halten. Professor*innen, die eine von ihnen selbst betreute Dissertation benoten, benoten letztlich immer auch sich selbst.

Auch schon im Arbeitsprozess kann die bestehende Regelung sich negativ auf die wissenschaftliche Qualität auswirken. So mag die Herausbildung von „Schulen“ schmeichelhaft sein. Sie wäre aber überzeugender, wenn Promovierende wirklich ergebnisoffen und unabhängig entscheiden könnten, welche Modelle und Methoden sie anwenden wollen, und wenn diese Entscheidung allein von den Anforderungen des Themas abhinge und nicht vom Wissen, dass der oder die Betreuende am Ende auch über die Annahme der Arbeit und die Note bestimmt. Die jetzige Regelung bremst die freie wissenschaftliche Entwicklung von Promovierenden aus und passt damit sehr gut in ein System, das seinen sogenannten „Nachwuchs“ systematisch infantilisiert.

Machtmissbrauch

Die Machtfülle, die Professor*innen an Universitäten zukommt, ist kaum zu rechtfertigen. Dabei spielt die Verknüpfung von Betreuung und Benotung, oft noch ergänzt durch ein Dienstvorgesetztenverhältnis, eine entscheidende Rolle. In der Debatte um Machtmissbrauch an Hochschulen wird eine Auflösung dieses Machtknotens als wichtigen Schritt hin zu einer Verbesserung der Verhältnisse gesehen. Denn auch hier ist es wieder das Wissen um das am Ende des Prozesses stehende Gutachten, das – neben anderen Aspekten – die Promovierenden erpressbar macht. Beschwerden über vertragswidrige Arbeitsbedingungen, Nötigung oder Belästigung fallen deutlich leichter, wenn die Annahme und Benotung der Dissertation nicht von eben der Person abhängt, über die man sich beschweren möchte.

Wie bei allen Diskussionen über Machtmissbrauch an Universitäten gilt auch hier: Eine neue Regelung wird Machtmissbrauch nicht vollständig verhindern, sie bildet aber eine Möglichkeit, die Strukturen weniger anfällig für missbräuchliches Verhalten zu machen.

Mögliche Maßnahmen

Im Laufe der Debatte und beim Blick über die Grenzen des deutschen Wissenschaftssystems hinaus kommen schnell zahlreiche Vorschläge für eine bessere Gestaltung zusammen. Diese können flexibel eingesetzt werden, was auch eine Anpassung der Regelung an verschiedene Fachkulturen möglich macht. Hier nur einige Beispiele:

  • Der/die Hauptbetreuende ist nicht an der Benotung beteiligt.
  • Entzerrung des Lehrer*in-Schüler*in-Verhältnisses durch Dissertationskomitees.
  • Diese Komitees können die Mitarbeit von Gutachter*innen aus der eigenen Universität, anderen Universitäten und/oder aus dem Ausland erfordern.
  • Gutachter*innen werden vom/von der Doktorand*in vorgeschlagen und von einem Komitee/der Fakultät bestätigt.
  • Der/die Hauptbetreuende ist nicht an der Benotung beteiligt, hat aber die Möglichkeit, einen Bericht über den Verlauf der Arbeit zu schreiben. Dabei kann auf Probleme (Notwendigkeit, die Fragestellung zu verändern; Archive waren geschlossen; Methodik wurde weiterentwickelt; Krankheit etc. etc.) hingewiesen werden, um den Gutachter*innen einen Einblick zu geben und die Möglichkeit, fair und mit Rücksicht auf die individuellen Arbeitsbedingungen zu bewerten.
  • Klare Befangenheitsregeln, sowohl für die Komitees als auch für die Hauptbetreuer*innen.
  • Eine grundlegende Umstrukturierung der Machtverhältnisse an Universitäten durch ein Department-System.
  • Jede*r Doktorand*in hat das garantierte Recht, zu jedem Zeitpunkt und ohne Angabe von Gründen die Betreuung zu wechseln. Das Institut/die Fakultät ist verpflichtet, diesem Wunsch nachzukommen.
  • Promovierende erhalten ein eigenes Budget, um finanziell nicht von ihrer/m Betreuer*in und Dienstvorgesetzten abhängig zu sein.
  • Betreuungsvereinbarungen legen die Pflichten und Rechte der Promovierenden und der Betreuenden fest. Diese Vereinbarungen sowie Arbeitsverträge und Tätigkeitsbeschreibungen werden den Promovierenden bei Arbeitsbeginn ausgehändigt, gemeinsam mit einer Liste mit Ansprechpartnern für Probleme.

Gegenargumente

Auch die Argumente gegen eine Trennung kommen aus zwei verschiedenen Richtungen. Einmal gibt es zahlreiche Befürchtungen organisatorischer Art, die weitgehend auf die Frage hinauslaufen: Gibt es genügend potentielle Gutachter*innen? Angesichts des sehr differenzierten und sehr aktiven Begutachtungswesens in Deutschland, das sich von Anträgen auf Exzellenzcluster über Berufungen und Rezertifizierung bis hin zum peer-review wissenschaftlicher Publikationen erstreckt, ist es allerdings nur schwer vorstellbar, dass sich ausgerechnet für Dissertationen keine Gutachter*innen finden ließen.

Die zweite Argumentationsgruppe ist grundlegend. Sie entspringt einem – in den meisten Fällen sicher ehrlichen – Schutzimpuls, dem Wunsch, „meine“ Promovierenden vor einer möglicherweise ungerechten Bewertung abzuschirmen. Diese Haltung ist verständlich. Sie ist aber auch ein Zeichen für den fundamental paternalistischen Charakter des deutschen Wissenschaftssystems. Trauen wir Promovierenden, die drei, vier, bis zu sechs Jahre an einer Dissertation geschrieben haben, wirklich so wenig zu? Fühlen wir uns so sehr als „Doktormutter“ oder „-vater“, dass wir diese hochqualifizierten Forscher*innen nicht unbeaufsichtigt der wissenschaftlichen Kritik aussetzen wollen? Das Argument zeigt darüber hinaus auch, wie wenig wir dem System trauen. Wir bauen auf individuelle Beziehungen und beargwöhnen die bestehenden Kontrollmechanismen. Zugleich lehnen wir in einer paradoxen Dynamik die Verbesserungen solcher Mechanismen ab. Ein paternalistisches System fordert paternalistisches Verhalten heraus. Umso wichtiger ist es, endlich dagegen anzugehen.

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