Grundsätze

Das Netzwerk Nachhaltige Wissenschaft (NNW) entstand im Mai 2024 im Zuge des Protests gegen das (novellierte) Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) aus der Initiative #ProfsFuerHanna. Wir wollen unsere privilegierte Position als Professor*innen nutzen, um Missstände in der Wissenschaftsorganisation und Hochschulpolitik zu benennen und zukunftsfähige Lösungen zu erarbeiten. Wie andere bereits bestehende Initiativen fordern wir die Akteure der Wissenschaftspolitik auf, die Expertise der wissenschaftlichen Community ernst zu nehmen und die vielen durchdachten Vorschläge zu einer dringend nötigen Reform des deutschen Wissenschaftssystems aufzugreifen, anstelle sie – wie jüngst bei der Novellierung des WissZeitVG – zu ignorieren.

Ein nachhaltiges Wissenschaftssystem

  • fördert verlässliche und dauerhafte Strukturen in der akademischen Arbeit,
  • baut lähmende Hierarchien und veraltete Organisationsformen ab und ermutigt zu Eigenverantwortung,
  • setzt finanzielle Ressourcen sinnvoll und effizient ein,
  • unterstützt Forschung auch zu Themen, die nicht im Trend liegen oder kompliziert, riskant und langfristig angelegt sind,
  • macht Wissensbestände allgemein und barrierefrei zugänglich und sichert sie transparent für die Zukunft,
  • geht offen mit Fehlern und Begrenzungen um, anstatt vorrangig den Anschein überlegener Kompetenz zu pflegen,
  • etabliert demokratische Strukturen der Vernetzung und Kommunikation statt immer schnellerer Zyklen von Konkurrenz und Wettbewerb,
  • honoriert Forschungsleistungen anstelle von erfolgreichen Anträgen und Drittmittelvolumen,
  • würdigt den Inhalt von Publikationen statt ihrer Platzierung in Prestige versprechenden Zeitschriften,
  • versteht Diversität als wesentliches Entwicklungsziel für die wissenschaftliche Arbeitswelt und wirkt Diskriminierungen systematisch entgegen,
  • begreift die Hochschule als Reflexions- und Resonanzraum für gesellschaftliche Diskussionen.

Um diese Ziele zu erreichen, sind folgende konkrete Schritte angezeigt:

1.   Erhöhung der Nachhaltigkeit von Beschäftigungsstrukturen

Das Sonderbefristungsrecht, das es den akademischen Institutionen in Deutschland erlaubt, Wissenschaftler*innen über Jahre auf Abruf zu beschäftigen, ist in der jetzigen Form verfehlt und schädlich. Gegen befristete Promotionsstellen mit fachangemessener Mindestdauer ist wenig einzuwenden. Mit der Promotion ist die Qualifikation jedoch abgeschlossen. Danach wären Dauerstellen für Forschende und Lehrende ebenso angemessen wie in jedem anderen Tätigkeitsfeld auch. Das WissZeitVG muss in diesem Sinn grundlegend reformiert werden. Um zugleich zu verhindern, dass befristete Promotions- und Projektstellen genutzt werden, um das Arbeitsrecht zu unterlaufen, sollen akademische Einrichtungen insgesamt nur über eine begrenzte Zahl von befristeten Stellen verfügen können. Ein gutes Mittel hierfür wären Befristungshöchstquoten, die nicht den Status quo konsolidieren, sondern in Richtung arbeitsmarktüblicher Befristungsanteile gehen. Ein Abbau von Befristungen (derzeit über 80% der Anstellungsverhältnisse in der Wissenschaft) würde der vorherrschenden Prekarität in den akademischen Lebensläufen entgegenwirken und eine robuste und planbare Infrastruktur in Forschung und Lehre etablieren.

2.   Demokratisierung der Organisationsstrukturen

Die Praxis, wissenschaftliche Mitarbeitende als ‚Ausstattung‘ von Professuren zu betrachten, bindet Forschende mit eigenständigen Profilen und Expertisen an die Konjunkturen von Berufungen und Amtszeiten und lädt zu Machtmissbrauch ein. Zweifelsohne verlangen Forschungskontexte ebenso wie andere Bereiche der akademischen Arbeit klare Entscheidungs- und Weisungsbefugnisse. Verlässliche Verantwortungsstrukturen erfordern aber nicht zwangsläufig, dass sich viele unterschiedliche Entscheidungsrechte auf wenige Akteure konzentrieren. Forschungsorganisation und Dienstrecht müssen entkoppelt werden. Die notwendige Verteilung von Lehraufgaben und administrativen Tätigkeiten an Instituten und Fakultäten lässt sich weitreichend über die Personalstruktur regeln und in Arbeitsverträgen fixieren. Eine weitere wichtige Demokratisierung bestünde darin, die Professor*innenmehrheit in den Gremien akademischer Selbstverwaltung in eine Mehrheit der Forschenden und Lehrenden zu transformieren. Auch die Studierenden, die technischen und die Verwaltungsangestellten benötigen in den für sie essentiellen Bereichen größere Mitsprache- und ggf. auch Vetorechte. Demokratische, gerechte und inklusive Entscheidungsstrukturen fördern die Eigenverantwortung sämtlicher Mitglieder und die Resilienz des Systems.

3.   Erhöhung von Transparenz und Sicherheit in der wissenschaftlichen Zusammenarbeit 

Um Machtmissbrauch vorzubeugen und die wissenschaftliche Qualität zu sichern, sollten die bei Qualifikationsarbeiten gewöhnlich miteinander verbundenen Rollen der Betreuung und Begutachtung voneinander und beide von der Vorgesetztenrolle getrennt werden. So werden unnötig starke persönliche Abhängigkeiten reduziert. Die bestehenden schwachen und diffusen internen Compliance-Regularien müssen durch ein robustes System von Vertrauensstellen, Beschwerde- und Sanktionsmöglichkeiten ersetzt werden, das von einzelnen akademischen Institutionen unabhängig ist. Nur so wird es möglich, Machtmissbrauch, Korruption und Betrug auf sämtlichen Ebenen der wissenschaftlichen Arbeit – vom Seminar bis zur Forschungskooperation – effektiv entgegenzuwirken.

4.   Grundfinanzierung vor Projektwettbewerb

Der Wettbewerb um steuerfinanzierte Drittmittel hat überhandgenommen. Er schadet allen Beteiligten: den Projektleiter*innen, die oft mehr Zeit für Antragstellungen und Abschlussberichte aufbringen müssen als für die eigentliche Forschung und sich in die Konjunkturen von Ausschreibungen und Förderschienen einpassen müssen; den Projektbeschäftigten, deren Verträge mit Projektende auslaufen, oft ohne dass die Forschungsarbeit abgeschlossen ist; den Hochschulen, die mit Projekt-Overheads nur unzureichend für ihre Infrastrukturkosten entschädigt werden; den Steuerzahlenden, die statt Forschung zunehmend Antragsarbeit und Berichtswesen finanzieren. Die Alternative liegt auf der Hand: Forschungsförderung muss primär an die Grundfinanzierung von Forschungseinrichtungen gekoppelt werden, statt immer wieder aufs Neue kurzlebige Projekte anzustoßen. Ein solcher Wandel könnte auch dazu führen, dass wieder eher die eigentlichen Forschungsleistungen als die eingeworbenen Forschungsmittel als Ausweis wissenschaftlicher Exzellenz gelten.

5.   Frei zugängliche Wissenschaft

Das derzeitige wissenschaftliche Publikationswesen wird von einigen wenigen, kommerziell ausgerichteten Akteuren (Verlagen) dominiert. Es setzt Fehlanreize für diese Verlage wie auch für die Wissenschaftler*innen und schadet der Transparenz und Qualität des wissenschaftlichen Diskurses. Eine Alternative skizzieren die Beschlüsse der europäischen Wissenschaftsminister*innen im Rat der EU vom 23. Mai 2023, die an allen akademischen Institutionen konsequent umgesetzt werden sollten. Eine von der Wissenschaft selbst geleitete Informationsinfrastruktur ist unerlässlich für die Etablierung einer ‘offenen Wissenschaft’ (“Open Science”). Die öffentlichen Wissenschaftsorganisationen müssen in die Wissenschaftspublikation einsteigen und sie für Lesende und Autor*innen kostenfrei und frei zugänglich gestalten (“Diamond Open Access”). Öffentliche Fördermittel für Open-Access-Publikation müssen in den Aufbau dieser Infrastrukturen fließen, statt über Publikationsgebühren die Gewinne privater Verlags-Konsortien zu finanzieren. Auch das wissenschaftliche Begutachtungsverfahren (“peer review”) sollte weiterentwickelt werden, um Transparenz zu erhöhen und Missbrauch zu vermeiden; hierfür bieten sich etwa offene und zitierbare Peer-Reviews als Mittel an.

6.   Abbau und Umbau von Wettbewerbsmechanismen

Das derzeitige System metrisierter Prestigekonkurrenz zwischen Individuen und zwischen Institutionen muss überwunden werden. Die gängigen Metriken (Autor*innenschaften, Zitationen, h-Index, Impact Faktoren, eingeworbene Drittmittel) sind wenig valide und einfach manipulierbar. Es besteht ein erheblicher Fehlanreiz, möglichst viel öffentliches Geld für die eigene Forschung zu verbrauchen. Im Vordergrund der wissenschaftlichen Arbeit muss der glaubwürdige inhaltliche Fortschritt stehen, nicht die Optimierung irreführender Kennzahlen. Gute Leistungen in der Lehre müssen ebenso wie die Gremienarbeit und Einsatz für den gesellschaftlichen Fortschritt angemessen gewürdigt werden.

Für die Grundannahme, dass ein Wettbewerb der Standorte in seiner jetzigen Form die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit fördert, mangelt es an Belegen, zumal die Mechanismen der Qualitätskontrolle im System schwach sind. Zeitgemäßer und verantwortbarer wäre der kooperative Aufbau nachhaltiger Expertise und Strukturen über Standorte hinweg, anstelle immer wieder neuer lokaler Zentren und Verbundprojekte, die in Reaktion auf Ausschreibungen und Förderschienen entstehen und wieder verschwinden, ohne sich in das Gedächtnis der Forschung einzuschreiben.  

7.   Schaffung besserer Bedingungen für Diversität

Professor*innen tragen eine besondere gesellschaftliche Verantwortung, die dafür genutzt werden muss, eine demokratische, vielfältige und gerechte Gesellschaft zu gestalten. Ein barrierefreier und inklusiver Zugang zu Professuren, Arbeits- und Studienplätzen ist rechtlich festgeschrieben, aber noch lange nicht praktisch etabliert. Universitäre Einrichtungen und akademische Forschung profitieren nicht von Homogenität, sondern von Menschen mit vielfältigen Lebensläufen – auch an ihrer Spitze. “First Generation” Profs und Studierende sind an Hochschulen noch immer deutlich unterrepräsentiert. Auswahlkommissionen sollten Bildungs- und Chancengerechtigkeit als wesentliches Kriterium und nicht nur als Begleitumstand verstehen und persönliche Herausforderungen wie auch die Gesamtheit gesellschaftlicher Leistungen (z. B. Pflege und Kindererziehung, aber auch zivilgesellschaftliches Engagement) angemessen berücksichtigen. Wissenschaftler*innen und Studierende, die in ihrem Sprachgebrauch möglichst viele und verschiedenartige Menschen abbilden, müssen sicher vor Nachteilen sein.

8.   Gesunde Arbeitsbedingungen und realistische Erwartungshorizonte

Wissenschaftler*innen in frühen Karrierestadien sehen sich häufig gezwungen, zur Selbstbehauptung im System über zumutbare Grenzen hinaus zu arbeiten. Auch viele Professor*innen werden durch Aufgabenhäufung sowie die Verantwortung für Projekte und befristete Mitarbeitende mit Anforderungen konfrontiert, die ihre eigene Gesundheit und die Qualität ihrer Arbeit bedrohen. Diese allgegenwärtige Überlastung und Selbstausbeutung muss sichtbar gemacht und reduziert werden (z.B. durch Erfassung von Arbeitszeiten und eine konsequente Berücksichtigung und Würdigung des Einsatzes in Gremien und in der Betreuung). Um die Einheit von Forschung und Lehre zu erhalten, müssen außerdem auch bei stärker in der Lehre engagierten Wissenschaftler*innen die Deputate nach oben begrenzt bleiben. Jede wissenschaftliche Dauerstelle sollte mit einem Anrecht auf turnusmäßige Forschungsfreisemester verbunden sein.

Als Sprecher*innen des Netzwerks Nachhaltige Wissenschaft:

  • Prof. Christina Hölzel (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)
  • Prof. Daniel Leising (Technische Universität Dresden)
  • Prof. Ruth Mayer (Leibniz-Universität Hannover)
  • Prof. Katharina Meinecke (Universität des Saarlandes)
  • Prof. Tilman Reitz (Friedrich-Schiller-Universität Jena)

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